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Die Kekse und der Schal

Es war Heiligabend, und Sofie saß allein in ihrer kleinen, warm erleuchteten Stube. Der Schnee fiel lautlos vor dem Fenster, und die Stille der Nacht war fast greifbar. Sie hatte gerade einen Teller Plätzchen auf den Tisch gestellt, liebevoll dekorierte Kekse in Formen von Blumen, lachenden Kindern, spielenden Hunden und Herzen. Sie waren mit glitzerndem Zuckerguss und bunten Perlen verziert, jeder einzelne ein kleines Kunstwerk. Es war ihr Ritual, diese Plätzchen zu backen, auch wenn sie sie nur selten mit jemandem teilen konnte.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ Sofie zusammenzucken. Es war kein forsches, ungeduldiges Klopfen, sondern ein zaghaftes, beinahe bittendes.

Sofie stand auf, schürzte ihren Schal enger um die Schultern und öffnete die Tür. Vor ihr stand ein Mann, schlank, mit einem Gesicht, das gleichermaßen vertraut wie unnahbar wirkte. Sein Mantel war schlicht, aber abgenutzt, als hätte er viele kalte Winter gesehen.

„Verzeihen Sie die Störung,“ sagte der Fremde mit einer Stimme, die wie ein ferner Windhauch klang. „Aber ich habe einen langen Weg hinter mir und brauche einen Moment der Ruhe.“

Sofie, wie immer freundlich und zuvorkommend, trat zur Seite. „Kommen Sie herein. Niemand sollte an Weihnachten allein sein.“

Der Mann trat ein, dankte mit einem knappen Nicken und setzte sich an den kleinen Tisch. Sofie reichte ihm eine Tasse Tee und setzte sich ihm gegenüber. Eine Weile sprach keiner von beiden. Der Fremde betrachtete die Flamme der Kerze, die zwischen ihnen stand, und Sofie wartete geduldig.

Schließlich brach er das Schweigen. „Sofie, wie lange ist es her, dass du dich zuletzt gefragt hast, warum du immer die Tür öffnest?“

Verwirrt blinzelte Sofie. „Wie meinen Sie das?“

„Du bist immer freundlich, immer offen. Du gibst jedem ein Stück von dir selbst, ohne zu zögern. Aber hast du jemals innegehalten und gefragt, ob alle, denen du hilfst, es verdienen?“

Sofie runzelte die Stirn. „Es spielt keine Rolle, ob sie es verdienen. Man hilft, weil es das Richtige ist.“

Der Mann lächelte traurig. „Das hast du oft gesagt, nicht wahr? Aber hast du je bemerkt, wie oft deine Güte ausgenutzt wurde? Wie oft du gegeben hast, ohne etwas zurückzubekommen?“

Sofie schwieg. Sie dachte an die vielen Menschen, denen sie in ihrem Leben geholfen hatte. Die Nachbarn, die sie um Hilfe baten und dann verschwanden. Die Verwandten, die sich nur meldeten, wenn sie etwas brauchten. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, ihre Taten zu hinterfragen.

„Warum sagen Sie mir das?“ fragte sie schließlich, ihre Stimme leise.

Der Mann lehnte sich zurück. „Weil ich nicht hier bin, um dich zu richten. Ich bin hier, um dich daran zu erinnern, dass das Leben kostbar ist. Und dass du lernen musst, es zu schützen. Nicht jeder, der an deine Tür klopft, verdient Einlass.“

Sofie spürte, wie ihre Kehle sich zuschnürte. „Wer sind Sie?“ flüsterte sie.

Der Mann sah sie mit Augen an, die wie Spiegel wirkten. „Ich bin derjenige, den du niemals hättest hereinlassen sollen. Aber du hast es getan, weil es in deiner Natur liegt. Und nun musst du erkennen, dass selbst das größte Herz lernen muss, nein zu sagen.“

Tränen liefen über Sofies Wangen. Die Flamme der Kerze flackerte, und für einen Moment schien der Raum kälter zu werden. Der Mann stand auf, zog seinen Mantel enger um sich und blickte noch einmal zurück.

„Ich wünschte, es wäre anders. Aber selbst die Liebe hat Grenzen, Sofie. Und du musst deine finden.“

Er öffnete die Tür und trat in die Nacht hinaus. Die Kerze erlosch, und Sofie saß im Dunkeln, allein mit ihren Gedanken. Der Schnee fiel weiter, lautlos und unaufhaltsam.

Nach einer Weile erhob sich Sofie, nahm den Teller mit den Plätzchen und ging zur Tür. Sie öffnete sie einen Spalt und stellte die Kekse behutsam vor die Schwelle. Daneben legte sie ihren warmen, handgestrickten Schal. Als sie den Blick hob, bemerkte sie eine Sense, die an der Hauswand lehnte. Sie war schlicht, aber unübersehbar, das Metall schimmerte kalt im Mondlicht. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

„Das hätte ich tun sollen,“ flüsterte sie leise, die Augen auf die Sense gerichtet. Dann schloss sie die Tür, ging zurück zu ihrem Bett und legte sich hin.

Die Dunkelheit hüllte sie ein, doch ein leises Lächeln spielte auf ihren Lippen. Ihre Augen wurden schwer, und sie spürte, wie die Ruhe sie umschloss. „Ich würde alles wieder so machen,“ murmelte sie, ihre Stimme nur noch ein Hauch. „Nur den Tod hätte ich nicht hereingelassen. Aber die Kekse und der Schal… das hätte sicher genügt.“

Ein letztes Mal dachte sie an die lachenden Kinder, die spielenden Hunde und die Blumen, die sie aus dem Teig geformt hatte. Ein einzelner Gedanke tröstete sie: Sie hatte geliebt, ohne zu bereuen. Mit diesem Gedanken schlief Sofie ein, während der Schnee die Welt zärtlich zudeckte und die Nacht still wurde, wie ein letzter, sanfter Atemzug.

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